Kapitel 2
Vor ihnen ragte die Justizvollzugsanstalt Wilton auf, ihre dunklen Tore ein schroffer Kontrast zum blassen Morgenhimmel. Emily kramte mit leicht zitternden Händen nach dem Taschenspiegel in ihrer Handtasche.
Sie trug eine weitere Schicht Make-up auf, verzweifelt bemüht, ihren fahlen Teint zu verbergen. Die Schminke fühlte sich schwer und unnatürlich auf ihrer Haut an, doch sie wollte lieber überschminkt aussehen, als Daniel Steele zu beunruhigen. Nach drei Jahren Trennung war sie nervös vor ihrem Wiedersehen.
Die massiven Eisentore quietschten und öffneten sich mit einem tiefen, mahlenden Geräusch. Emily holte tief Luft, als eine leicht gebeugte Gestalt aus dem Schatten trat.
„Daniel!“, rief sie aufgeregt und winkte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Der hager gewordene Mann blinzelte bei der vertrauten Stimme, für einen Moment desorientiert. „Sophie …?“
Emilys schnelles Näherkommen löste seine Verwirrung auf. „Daniel! Mein Timing ist perfekt! Hast du schon gefrühstückt?“
Ihr Herz zog sich zusammen, als sie sah, wie drastisch er sich verändert hatte.
Vor drei Jahren war Daniel Steele ein vielversprechender Absolvent der Bellevue University mit einer glänzenden Zukunft gewesen. Dann kam die falsche Vergewaltigungsanschuldigung, die ihn von einem brillanten Akademiker zu einem gesellschaftlichen Außenseiter machte.
Der Mann vor ihr hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem selbstbewussten Daniel, an den sie sich erinnerte. Dennoch behielt Emily ihren fröhlichen Ton bei – die Vergangenheit lag nun hinter ihnen, und sie mussten nach vorne blicken.
Als Daniel ihre Wärme und ihren Enthusiasmus spürte, verflog seine anfängliche Enttäuschung.
Er blickte mit sanften Augen auf und wollte gerade antworten, als er den Ehering an ihrem Finger bemerkte. Seine Pupillen verengten sich. „Emily, du bist verheiratet?“
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ihren Ehering nicht abgenommen hatte.
Der maßgefertigte Diamant – ein kleines Vermögen wert – war einer der wenigen greifbaren Beweise ihrer Ehe mit Alexander.
Aus einer Art mädchenhafter Sentimentalität heraus hatte Emily ihn seit ihrem Hochzeitstag nie abgelegt – bis jetzt. Instinktiv versteckte sie ihre Hand hinter dem Rücken und nickte verlegen. „Ähm, ja. Daniel, was möchtest du essen?“
Aber Daniel ließ sich nicht ablenken. Er bohrte nach, unfähig zu akzeptieren, dass die kleine Schwester, die er jahrelang beschützt hatte, die Frau eines anderen geworden war.
„Wer ist er?“, drängte er.
Angesichts seiner Frage verfiel Emily in ein unbehagliches Schweigen.
Wären sie und Alexander ein liebevolles Paar gewesen, hätte sie nicht gezögert, ihm ihren Mann vorzustellen. Aber jetzt, da die Scheidungspapiere bereits zugestellt waren …
„Daniel, ich bin eigentlich gerade dabei …“
Bevor sie zu Ende sprechen konnte, schrillte ihr Handy mit einem lauten, unverwechselbaren Klingelton los – Doris Perrys spezieller Klingelton, den sie absichtlich so eingestellt hatte, dass man ihn unmöglich überhören konnte.
Emilys Miene veränderte sich schlagartig. Seit ihrer Heirat hatte Doris sie nur selten kontaktiert. Das musste dringend sein.
„Doris! Was? Ich bin sofort da!“
Als Daniel erfuhr, dass das Kinderheim „Morgentau“ in Schwierigkeiten steckte, stellte er seine Fragen zurück. Sie hielten schnell ein Taxi an und eilten zum Waisenhaus.
Als sie ankamen, stand der abgenutzte Eingang offen, und davor parkten zwei teure Autos.
Emily nahm sie kaum wahr, ihre ganze Aufmerksamkeit galt der älteren Frau, die in der Tür stand.
„Doris!“ Sie eilte nach vorne und stellte sich schützend vor die Leiterin des Heims. „Was ist hier los?“
Sie breitete abwehrend die Arme aus und beäugte die großen Männer in Anzügen misstrauisch.
James trat hinter der Gruppe hervor, räusperte sich leicht und hielt ein Dokument in der Hand. „Ms. Ward, machen Sie mir meine Arbeit bitte nicht schwer.“
Emilys Herz sank. „Hat Alexander Sie geschickt?“
Als James hörte, wie Emily Alexanders Vornamen benutzte, zog er die Stirn in Falten und sein Ton wurde streng. „Ms. Ward, kennen Sie Ihren Platz! Die Handlungen von Mr. Foster stehen Ihnen nicht zu, sie infrage zu stellen.“
Emilys Körper zitterte leicht. In ihrem geschwächten Zustand konnte sie starken Emotionen kaum standhalten, aber für das Dawn Kinderheim musste sie ruhig und klaren Kopfes bleiben.
Die Familie Foster besaß die Eigentumsrechte an dem Heim. Vor drei Jahren hatte Alexander es abreißen und ein Einkaufszentrum bauen wollen, aber Eleanor Foster hatte ihn aus Respekt vor Emily davon abgehalten.
Nun griff Alexander den alten Plan wieder auf – eindeutig, um sie dafür zu bestrafen, dass sie Sophies Fall abgelehnt hatte.
Ein metallischer Geschmack stieg ihr in den Hals, den sie gewaltsam hinunterschluckte.
Sie hob das Kinn, entblößte ihren schlanken Hals, ihr schönes Gesicht voller Trotz.
„Alexander will nur, dass ich diesen Fall übernehme. Sagen Sie ihm, dass ich einverstanden bin. Und jetzt nehmen Sie Ihre Männer und gehen Sie!“
Am Ende war ihre Stimme vor Kummer und Groll gebrochen. Alexander würde vor nichts zurückschrecken, um sie zu zwingen, Sophie zu verteidigen!
James zögerte. Alexander hatte nicht ausdrücklich gesagt, warum er plötzlich das Dawn Kinderheim ins Visier genommen hatte, aber James’ Vermutung deckte sich mit Emilys Annahme.
Während er überlegte, ergriff der bis dahin schweigende Daniel plötzlich das Wort. „Alexander? Der CEO der Foster Group?“
James sah ihn überrascht an. „Ja, das ist richtig. Darf ich fragen, wer Sie sind, mein Herr?“
Daniels Fäuste ballten sich, Adern traten auf seiner Stirn hervor und sein Gesichtsausdruck wurde furchteinflößend.
Emily, die ihn gut kannte, spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, und zog ihn hinter sich. „Er ist niemand. James, bitte übermitteln Sie meine Nachricht an Mr. Foster.“
James warf Daniel einen weiteren Blick zu, bevor er mit seinen Männern ging.
Als die beiden Autos aus dem Blickfeld verschwanden, gaben Emilys Beine nach und sie wäre beinahe zusammengebrochen.
Doris fing sie auf, Sorge stand ihr in den Augen. „Emily, warum siehst du so erschöpft aus?“
Emily hatte nicht erwartet, dass Doris trotz ihres starken Make-ups erkennen konnte, dass es ihr nicht gut ging.
Sie schüttelte den Kopf und wollte gerade eine Ausrede erfinden, als Daniel ihr Handgelenk mit unerwarteter Kraft packte.
„Daniel, du tust mir weh!“, schrie sie vor Schmerz auf.
Aber er schien sie nicht zu hören, zerrte sie an einen abgelegenen Ort und knirschte wütend mit den Zähnen. „Welche Beziehung hast du zu Alexander?“
Welche Beziehung? Diese Frage war für Emily schwer zu beantworten.
Ihr Schweigen machte Daniel nur noch wütender. Er schlug zornig mit der Faust gegen die nahegelegene Wand. „Warum hast du dir von allen Orten ausgerechnet die Foster Group als Arbeitsplatz ausgesucht? Hast du irgendeine Ahnung, wer mir eine Falle gestellt und mich ins Gefängnis gebracht hat?“
Als Emily in Daniels blutunterlaufene Augen blickte, zog sich ihr Herz zusammen. Die Antwort wurde schmerzlich klar.
„Die Person, die mich ins Gefängnis gebracht hat, war Alexander Foster!“
